Loslassen durch Re-Signieren

Interessanten Artikel von Oliver Bartsch gefunden.

Sich selbst aushalten. Leichter gesagt als getan, oder? Wir schlagen uns ganz schön herum mit den Engpässen in unserem Leben… Das ist oft so unangenehm, dass viele von uns Meister in Ablenkungs- und Ausweichstrategien geworden sind – immer in der Hoffnung, den Schmerz nicht fühlen zu müssen.

Auf diese Weise nimmt allerdings das Leiden weiter zu: Wir versuchen, unser Leben zu unterdrücken, dadurch kann es nicht mehr fließen, und diesen Stillstand, diese Blockierung nehmen wir auf vielerlei Weise als Leiden wahr. Vom arabischen Poeten und Schriftsteller Ibn Kalakis (1138-1171), stammt das Zitat: „Wasser, das fließt, ist voll guter Eigenschaften; kommt es zum Stillstand, verliert es sie.“ Wenn unser Leben nicht (mehr) fließen darf, dann passiert genau das.

Eine wichtige Strategie, um uns nicht aushalten (= fühlen) zu müssen, ist unser Denken. Unser Verstand erzählt uns ununterbrochen Geschichten über uns selbst – je nach individueller „Programmierung“. Ganz oft sind wir gefangen in inneren Dialogen mit uns selbst (wir sind die Besten oder wir sind nicht gut genug, wir sind zu dick, zu dünn, zu groß, zu klein …). Unser Kopf, unser innerer Dauerkritiker, bewertet so ziemlich alles, was uns passiert, und gerne auch, was wir tun und wie wir uns verhalten – letztlich also uns selbst als Menschen. Diese Bewertungsschleifen suggerieren uns ununterbrochen, dass wir „nicht richtig“ sind und die Welt und uns selbst ändern müssen, damit „es okay“ ist – statt einfach mal zu fühlen, was in unserem Körper so vor sich geht.

Als Folge dieser Ausweichstrategie, die das Jetzt und uns selbst als falsch ablehnt, setzt sich bei vielen von uns die Überzeugung fest, dass wir uns unglaublich anstrengen müssen, um unser Leben und am liebsten auch unsere Umwelt zu steuern und zu kontrollieren. Wenn das nicht gelingt, führt das zu extremem Stress. Als Konsequenz verdoppeln wir dann unsere Bemühungen – ganz schön verrückt, oder? Dieses Ausweichverhalten hat oft fatale Folgen: verschiedenste Formen von Depression und Burnout, aber auch Krankheiten, Allergien und vieles mehr. Oft sind es auch – besonders am Anfang – weniger offensichtliche Phänomene, die zeigen, dass etwas in uns „nicht mehr ausreichend fließt“: Es mag sein, dass wir depressiv werden, dass wir „wegen des Stresses“ dauerhaft zu Süßem greifen oder gar zu Alkohol und anderen Drogen. All dies sind Ausweichmechanismen und deren Folgen, damit wir unseren Schmerz nicht fühlen müssen. Dadurch verengt sich unsere Komfortzone immer mehr und wir bewegen uns ins Dauer-Leiden. Den Herausforderungen, die wir nun mal in unserem Leben haben, begegnen wir aus diesem Schutzraum heraus immer wieder mit den gleichen Rezepten und hören in diesem Teufelskreis nicht auf, unsere eigene Lebendigkeit zu bekämpfen. Das ist traurig und absurd, doch es sind die Mechanismen, die die meisten von uns gelernt haben.

Re-Signieren

Um sein eigenes Ausweichverhalten zu verstehen und ihm nicht immer automatisch zu folgen, kann es durchaus hilfreich sein, sich mit der Herkunft von Worten zu beschäftigen und sich auf etwaige überraschende Perspektivwechsel einzulassen. Zum Beispiel hat das Wort „resignieren“ in unserem Sprachgebrauch eine negative Anmutung im Sinne von „deprimiert aufgeben“. Resignieren kommt allerdings vom lateinischen resignare und das bedeutet zunächst mal einfach „zurückgeben“! Wir geben es sozusagen zurück ans Universum und hören eben auf, es verändern zu wollen und dagegen anzukämpfen. Positiv betrachtet hat die Haltung des Resignierens also viel mit Kapitulieren an der richtigen Stelle zu tun. Nicht mehr gegen das, was ist, zu kämpfen kann sehr erleichternd sein! Wahrscheinlich von dem amerikanischen Theologen, Philosophen und Politikwissenschaftler Reinhold Niebuhr (1892-1971) stammt der bekannte Gelassenheitsspruch, der es auf den Punkt bringt: „Gott, gib uns die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die wir nicht ändern können, den Mut, Dinge zu ändern, die wir ändern können, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“

Es ist gut nachvollziehbar, dass dieser Spruch gerade in Selbsthilfegruppen wie etwa den Anonymen Alkoholikern verwendet wird. Gelassenheit Dinge hinnehmen, die wir nicht ändern können? Ein harter Brocken für unseren Verstand, der das natürlich gar nicht einsehen mag! Doch genau hier liegt die praktische Verbindung zum Spirituellen, denn je mehr wir uns gegen diese Form der Kapitulation wehren, desto mehr gehen wir in die Abspaltung. Unser Denken sagt uns, dass alles erstmal verändert werden muss, bevor wir uns vollständig annehmen können. Selbst wenn sich etwas mal in unsere Wunschrichtung verändern sollte, fallen unserem Kopf schnell neue Gründe ein, warum es immer noch nicht völlig „okay“ ist. Genau diese Abspaltung, dieses Nein zu dem, was ist, gilt es zu überwinden und sich ganz dem Leben hinzugeben, in dem wir die ganze Zeit sowieso bereits sind. Denn unser Widerstand und unsere Ausweichstrategien sind ja genau das, was das Leiden überhaupt erst erzeugt. Es ist faszinierend, wie sehr östliche und westliche Philosophen in dieser Erkenntnis übereinstimmen.

Eines von vielen Beispielen aus dem fernen Osten ist der japanische Zen- Meister Bankei Eitaku (1622-1693), von dem das folgende Lehrbeispiel stammt: Ein Laie fragt: „Wenn ich unerwartete Geräusche höre, etwa Gewitterdonner, so erschrecke ich manchmal. Das ist wohl so, weil mein Geist meistens nicht wirklich gelassen ist. Wie kann ich erreichen, dass ich nicht mehr erschrecke, was auch immer geschieht?“ Bankei: „Wenn etwas dich erschreckt, ist es das Beste, einfach erschrocken zu sein. Wenn du dich davon abhältst, erschrocken zu sein, wird dein Geist zwiespältig.“ (Meister Bankei: „Die Zen-Lehre vom Ungeborenen“)

Ein noch älteres, aus dem Westen stammendes Zitat stammt vom römischen Philosophen Seneca (1-65n.Chr.), der sagte: „Den Willigen führt das Schicksal, den Unwilligen zerrt es.“ Mit anderen Worten, der Unwillige leidet vor sich hin – so geht es uns, wenn wir uns ständig gegen unser eigenes Leben wehren und das, was passiert, eben nicht aushalten wollen! Es geht natürlich keinesfalls darum, die Füße hochzulegen und sich aufzugeben, wie manche meinen. Das mit diesem Thema zusammenhängende taoistische Wu Wei wurde daher im Westen auch oft missverstanden: Es bedeutet Handeln durch Geschehen-Lassen (also durch Nicht-Handeln) – aber eben nicht im Sinne von Gleichgültigkeit, sondern im Sinne von „Enthaltung eines gegen die Natur gerichteten Handelns“, also von „Nicht-Eingreifen“!

Mut und Demut

… den Mut, Dinge zu ändern, die wir ändern können …: Das Wort Mut kommt vom Mittel- bzw. Althochdeutschen muot und bedeutet Gemütszustand, Leidenschaft; Entschlossenheit. Die Extreme des Mutes heißen Hochmut und Schwermut – in der Mitte davon liegt die Demut. Im Hochmut weiß der entsprechende Persönlichkeitsanteil alles besser und wirft der eigenen Person, anderen und der Welt ständig vor, falsch zu sein. Das führt vom Bewerten zum Urteilen und weiter zum Verurteilen – mit dem Leben eins zu sein, geht anders. In der Schwermut zu sein bedeutet dagegen, depressiv zu sein, da wird etwas heruntergedrückt – wiederum ein Widerstand gegen das (eigene) Leben. Auch aus dieser Opferhaltung heraus empfinden wir die Welt als falsch und unfair – und uns selbst erst recht. Im Wort Demut sind Mut (indogermanisch mo- = nach etwas streben) und Dienen – althochdeutsch dionôn = (sich) unterordnen‘ – enthalten. Es geht also darum, sehr wohl aktiv den eigenen roten Faden zu verfolgen und eigene Programmierungen zu hinterfragen – und sich gleichzeitig dem Leben unterzuordnen. So kann sich das Leben in uns als individuelle Manifestation entfalten und eine wirklich neue Freiheit wird möglich.

Weisheit

Im Gelassenheitsspruch heißt es gegen Ende „… und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden“. Ist das immer einfach? Nein. Oder vielleicht doch, denn es ist ja unser Denken, was etwas kompliziert erscheinen lässt. Warum überlassen wir das Unterscheiden nicht einfach dem Leben selbst? Wenn wir das Leben mit offenen Sinnen zulassen, dann erschließt es sich oft fast wie von selbst. Es geht also darum, sich über unser Herz dem Leben anzuvertrauen. Genau das steckt auch in dem schönen Synonym von Mut, der Courage, in dem das französische coeur steckt, übersetzt das Herz! Haben wir den Kontakt zu unserem Herzen, treffen wir aus unserer Tiefe heraus Entscheidungen und wissen gleichzeitig eben nicht, was dabei herauskommt – vielleicht wird es so, vielleicht aber auch anders enden. Dieses „vielleicht“ zuzulassen, kann dann „viel leicht“ machen! Wichtig ist, dass wir dabei freundlich mit uns selbst sind – also Selbstmitgefühl kultivieren – was übrigens die Voraussetzung für Mitgefühl mit anderen ist. Es lohnt sich sehr, sich der eigenen „Programmierung“ zu stellen – auch wenn es mitunter herausfordernd ist –, sie mutig zu hinterfragen und sich gegebenenfalls auch Hilfe zu holen.

Dieser Mut, dieses Sich-selbst-Aushalten und Nicht-Denken-aber-Tun kann zu erfreulichen „Nebenwirkungen“ führen: Endlich kann sich unser Leben in echter Freiheit entfalten, unsere Angst vor dem Tod verringert sich und die Lebensfreude nimmt zu. „Die Umstände kann ich nicht ändern, aber meine Haltung dazu“, sagt dazu Edith Eva Eger (ihr äußerst inspirierendes Buch „Ich bin hier und alles ist jetzt“ sei hiermit herzlich empfohlen). So überwinden wir unsere Abspaltung und lernen zu leben, zu „surfen“ auf dieser einen Welle, die unser Leben ist, bis sie bricht – praktischer geht es nicht. Dazu noch einmal Seneca: „Nicht weil es schwer ist, wagen wir‘s nicht – sondern weil wir‘s nicht wagen, ist es schwer!“

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